Matthias Mölleney, HR-Experte, über Robot Recruiting
«Wer möchte denn schon von einer Maschine aussortiert werden?»
Robot Recruiting nennt sich die Technologie, die bei einer Jobbesetzung eine erste Sortierung der Dossiers Algorithmen übergibt. Matthias Mölleney, 61, ehemaliger Personalchef von Swissair und HR-Experte, erläutert, wie Robot Recruiting funktioniert – und wie Stellensuchende es für sich nutzen können.
«Bei der Vorauswahl geht es nur um das Fachliche. Da ist der Roboter unbeirrbar: 1 oder 0.»
Text DAN FURRER
Glaubt man dem kalifornischen Start-up Clearview, ist ihr Algorithmus unser aller Freund und Helfer. Clearview hilft eigentlich bei der Aufklärung von Verbrechen. Mit ihrer Software für Gesichtserkennung hilft die junge Firma, mutmassliche Terroristen, Mörder und andere Verdächtige zuverlässig zu identifizieren. Ein Foto der gesuchten Person reicht. Einmal eingescannt, sammelt die Software in Sekunden alle im Internet verfügbaren Informationen. Der Algorithmus nutzt Big Data und bedient sich munter an Milliarden von Fotos, die er auf Facebook oder Twitter findet, an Urlaubsfotos von Instagram und an jeder auch noch so kleinen Quelle an Informationen in Bits und Bytes. In diesem Kontext betrachtet, erhält der Firmenname gleich eine andere, leicht bedrohlichere Bedeutung.
Nach Recherchen der «New York Times» hat Clearview jetzt ihre Software an Hunderte Institutionen in den USA und Kanada verkauft. «Das Ende der Privatsphäre, wie wir sie kennen», titelte die «New York Times».
Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie den Begriff «Robot Recruiting» hören?
Matthias Mölleney: Für mich ist das diese ganze Welt der IT-unterstützten Personalarbeit. Aber ich würde zum Beispiel nie so weit gehen zu sagen, der Roboter macht das ganze Prozedere von A bis Z, und danach arbeiten Menschen im Unternehmen, die zuvor niemand zu Gesicht bekommen hat. Das geht für mich eindeutig zu weit. Google zum Beispiel hat eine klare Regel: Der Konzern evaluiert und nutzt all das, was im Bereich IT-unterstützender HR-Systeme angeboten wird, aber eine Entscheidung über einen Menschen darf nur von einem Menschen getroffen werden. Mir scheint das eine gute Lösung. Als Assistenz ja, aber wenn es darum geht, die finale Entscheidung zu treffen, übernimmt wieder der Mensch. Und zwar nicht nur, weil er das im Moment noch besser kann, behaupte ich mal, sondern einfach aus Respekt und ethischen Gesichtspunkten. Wer möchte denn schon von einer Maschine aussortiert werden?
Die finale Entscheidung findet in Fleisch und Blut statt, hier kommt vor allem die ethische Komponente zum Tragen.
Genau. Ich gebe Ihnen ein anderes Beispiel: Moderne Fahrzeuge fahren teilautonom. Aber es ist noch immer so, dass sich niemand in ein Auto setzen würde, das zu 100 Prozent autonom fährt, was auch gar nicht zulässig wäre. Ich komme ursprünglich aus der Luftfahrt. Ich kann mir gut vorstellen, dass irgendwann nur noch ein Pilot im Cockpit sitzt, der sozusagen als Sparringspartner der Systeme agiert. Ich kann mir in absehbarer Zeit nicht vorstellen, dass Menschen in ein Flugzeug einsteigen, in dem kein Pilot im Cockpit sitzt.
Der Pilot als vertrauensbildende Massnahme.
Exakt. Auch wenn ich hundertmal sage, die Maschine macht das alles präziser, zuverlässiger, berechenbarer und kalkulierbarer als jeder Mensch, dann kommt immer «ja aber, es ist eben doch kein Mensch».
Nun wird ja gerade im Bereich Human Resources in weiten Teilen der Pilot aus dem Cockpit entlassen. Der Algorithmus übernimmt. Wie muss ich mir den Einsatz von Robot-Recruiting-Systemen in der Praxis vorstellen?
Es fängt mit der Kandidatensuche an. Wie gehe ich auf den Markt? Auf welchen Markt gehe ich? Wie spreche ich relevante Kandidaten an? So wie früher, als einfach ein Stelleninserat in einer Tageszeitung geschaltet wurde, funktioniert das nicht mehr. Auch Online-Stellenbörsen wie jobs.ch kommen hier an ihre Grenzen. Egal, was für eine Stelle Sie ausschreiben – nehmen wir als Beispiel die Stelle eines Wirtschaftsredaktors –, sie wird nur von Menschen gesehen, die auf Stellensuche sind. Jemand, der als Wirtschaftsredaktor tätig ist, einen guten Job hat und zufrieden ist, wird das Stelleninserat nie sehen. Auf jobs.ch geht man ja nicht, weil man sich langweilt, sondern wenn man eine Stelle sucht. Entweder, weil man keine hat oder unzufrieden mit der aktuellen Position ist. Und das sind jetzt mal geschätzt nur rund 20 Prozent der Gesamtzielgruppe. Den grössten Teil können Sie mit diesen klassischen Instrumenten nicht erreichen. Und wenn sich das mit dem Fachkräftemangel so weiterentwickelt, können sich das immer weniger Branchen leisten. Ich muss also irgendwie auch die verbleibenden 80 Prozent zu erreichen versuchen. Bereits seit längerem bedienen sich die Unternehmen dafür im privaten Netzwerk der bestehenden Mitarbeitenden: Mitarbeitende rekrutieren Mitarbeitende. Und durch die künstliche Intelligenz kommen jetzt eben Algorithmen zum Zug, die systematisch Netzwerke wie LinkedIn, Xing oder Facebook durchsuchen, um dem Auftraggeber Vorschläge für die Stellenbesetzung zu unterbreiten. «Du, da sitzt der Paul, der entspricht zu 75 Prozent deinen Auswahlkriterien, hier ist seine E-Mail-Adresse, schreib ihn doch mal an.»
Das hört sich eigentlich ganz praktisch an.
Das ist ein sehr interessantes Feld, das sich im Moment entwickelt. Hier können mittels Big Data Netzwerke durchsucht, ausgewertet, analysiert und dann gezielt Leute angesprochen werden. Nachdem wir nun das Interesse potenzieller Kandidaten geweckt haben, gibt es verschiedene Möglichkeiten, die IT einzusetzen. Manche Grossunternehmen operieren bereits mit Scannern, die die fachliche Eignung auswerten können. Welche Qualifikationen muss diese Person haben, welche Kurse, Abschlüsse und Berufserfahrung muss sie vorweisen können? Der Algorithmus serviert dem Unternehmen nun die Kandidaten in geordneter Abfolge nach prozentualer Übereinstimmung mit den geforderten Kriterien. Es geht im Wesentlichen darum, eine relativ stupide, einfache Arbeit wesentlich schneller und effizienter erledigen zu lassen.
Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen?
Es geht um die Grundlagen: Hat der Kandidat im Beispiel des Redaktors ein Wirtschaftsstudium abgeschlossen, ja oder nein? Das ist der erste Grobcheck, der gemacht wird, um jene herauszufiltern, die die Basiskriterien nicht erfüllen. Wenn dann eine reduzierte Anzahl an Bewerbern übrigbleibt, die den Auswahlkriterien gerecht werden, geht es um die Persönlichkeit. Hier gibt es jetzt verschiedene Ansätze, die mittels Robot Recruiting verfolgt werden können. Einer davon ist, sogenannte Backgroundchecks zu machen. Dieses Verfahren ist noch nicht etabliert, aber bereits in der Entwicklung weit fortgeschritten. Es existieren auch offene Systeme, an denen man selbst ausprobieren kann, wozu diese Algorithmen heute in der Lage sind. Eine sehr spannende Lösung ist auf der Website der Cambridge University unter dem mysteriösen Namen applymagicsauce.com, also «füge magische Sauce hinzu», zu finden.
Englischer Humor.
Ja. (Lacht.) Das Psychometrics Centre der University of Cambridge scannt Ihr öffentlich einsehbares Profil auf Social-Media-Plattformen und macht daraus eine Ableitung Ihrer Persönlichkeit. Die Experten der Cambridge University behaupten, wenn sie alles auswerten, was Sie in den sozialen Medien gepostet, geliked, disliked, geschrieben und kommentiert haben, brauchen sie acht bis neun digitale Fundstellen, um ungefähr zu wissen, was für ein Typ Mensch Sie sind. Wenn sie mehr als 50 Fundstellen lokalisieren, kennen sie Sie besser als Ihre Kollegen. Wenn sie mehr als 150 finden, kennen sie Sie besser als Ihre Partnerin oder Ihr Partner. Und wenn sie mehr als 200 finden, kennen sie Sie besser als Ihre Mutter.
Zurück zum algorithmusgestützten Bewerbungsverfahren: Wie geht es weiter, wenn die Basiskriterien stimmen?
Der Algorithmus scannt nun alle verbliebenen Bewerber und unterbreitet dem Unternehmen seine Empfehlung. Unter den 20 Bewerbern ist zum Beispiel Kandidat Nummer 12 der fachlich am besten geeignete, aber das Unternehmen würde vielleicht Kandidatin 14 zum Gespräch einladen, die fachlich zwar nur die drittbeste ist, aber von der Persönlichkeit her besser ins bestehende Team passt.
Und dann kommt das Vorstellungsgespräch. Sitzt der Algorithmus in Form von Kameras mit am Tisch?
Oft werden die Kandidaten aufgefordert, zunächst einmal ein Video von sich zu einem bestimmten Thema zu erstellen und zu übermitteln. Der Algorithmus macht jetzt eine Bewegtbild- und Tonanalyse. Früher hat man ein graphologisches Gutachten erstellt, heute geht das alles viel exakter und mehrdimensional. Es gibt Leute, die behaupten, dass sie alleine über die Stimm-Modulation klare Aussagen zur Persönlichkeit machen können.
Ein weiterer Fall für Robot Recruiting?
Klar. Auch hier gibt es wiederum spezialisierte Algorithmen, die ursprünglich aus den forensischen Kriminalwissenschaften stammen und weit mehr als prozentuale Hochrechnungen zum Wahrheitsgehalt bieten.
Matthias Mölleney, 61, ist Inhaber der Beratungsfirma peopleXpert gmbh in Uster und Leiter des Centers für Human Resources Management & Leadership an der HWZ Hochschule für Wirtschaft Zürich. Nach 20 Jahren in den Diensten der Lufthansa wechselte Matthias Mölleney 1998 in die Schweiz. Dort war er Mitglied der Konzernleitung und Personalchef von Swissair, Centerpulse und Unaxis. Er berät Unternehmen in Veränderungssituationen und professionellem Personalmanagement. Er ist zudem Autor mehrer Bücher sowie zahlreicher Veröffentlichungen im Bereich Leadership, Personalmanagement und Change Management. Ausserdem ist Matthias Mölleney Direktor am internationalen Think-Tank «The Future Work Forum» und Mitglied in verschiedenen Stiftungs- und Verwaltungsräten.
Der Bewerber hat nun auch noch die visuelle und auditive Selektion via Video überstanden, jetzt gehts ins Bewerbungsgespräch. Welche Rolle spielt der Algorithmus hier?
Die Algorithmen werden irgendwann in der Lage sein, mit Bewerbern Interviews zu führen. Und die Maschine wird dann so gut sein, dass die meisten Bewerber das gar nicht merken. Ich habe von einem grossangelegten Test mit Studierenden gehört. Praktisch niemand konnte im Interview zwischen Roboter und Mensch unterscheiden. Zurück zu Ihrer Frage: Wir haben jetzt noch einen Pool von 20 Bewerbern, die die fachlichen Bedingungen erfüllen. Physisch kann ich nicht alle 20 zum Interview einladen, aber ich könnte 20 von meiner KI interviewen lassen. Wenn das schon bald gut funktioniert, bietet mir Robot Recruiting eine weitere Möglichkeit der Vorauswahl, bevor ich dann die drei finalen Kandidaten zum persönlichen Gespräch treffe.
Eine Kollegin durchlebte kürzlich ein Online-Bewerbungsszenario, das sich wie folgt abspielte: Nach der Registrierung wurden ihr Fragen gestellt. Die Bewerberin hatte für jede Frage ein knappes Zeitfenster, dabei wurden Bild und Ton aufgezeichnet. Die Fragen waren an Überraschungsgehalt kaum zu überbieten. Die Kollegin fühlte sich nach dem Robot-Recruiting-Prozess auf jeden Fall von der Maschine ziemlich ausgequetscht.
So einen Stresstest finde ich jetzt extrem grenzwertig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich solche Methoden durchsetzen werden. Man bedenke, wir reden ja auch von einem eklatanten Fachkräftemangel. Diese Firma, die dieses fragwürdige Prozedere inszeniert hat, ist ja selber auch gleichzeitig Bewerberin bei der Bewerberin. Wenn sich so ein Vorgehen herumspricht, hat das nicht zuletzt auch massive Auswirkungen auf die Reputation dieser Firma.
In welche Richtung geht die Reise bezüglich Robot Recruiting?
Schwergewichtig erledigt die KI im HR administrative Prozesse weitgehend automatisiert. Überall, wo grosse Datenmengen verarbeitet und ausgewertet werden sollen, ist der Algorithmus unschlagbar.
Das heisst, administrative Aufgaben erledigt künftig der Roboter?
Ja natürlich, da gibt es einen grossen Wandel. Als sich Autos als Verkehrsmittel durchsetzten, gab es ganz viele arbeitslose Hufschmiede und weniger Pferde. Und da müssen wir uns rechtzeitig überlegen, wie die Arbeitswelt damit umgehen kann. Wie muss sich unser Bildungssystem neu ausrichten? Auch für Berufe, die es heute noch gar nicht gibt. Das hat nicht zuletzt mit Weiterbildungsstrategien auf staatlicher Ebene zu tun.
Wir erleben gerade tektonische Verschiebungen in der Arbeitswelt.
Absolut richtig.
Kann es sein, dass unsere Politik und weite Teile der Gesellschaft diese epochale Entwicklung noch gar nicht in ihrem Ausmass erfasst haben?
So ist es. Die meisten glauben, da gibt es ein paar Computer mehr, das iPhone wird wieder mal etwas intelligenter, aber was da gerade wirklich passiert, haben die wenigsten begriffen. Ich nehme mich dabei gar nicht aus.
Wie können Stellensuchende die Algorithmen für sich nutzen und eventuell sogar mit dem Roboter interagieren?
Ich würde mir vor allem immer sehr gut überlegen, was man in Social Media und all den Netzwerken für einen Gesamteindruck hinterlässt. Es lohnt sich, einmal eine Analyse zu machen, welches Bild man zum Beispiel auf LinkedIn abgibt. Und sollte das, was ein Tool wie «Apply Magic Sauce» der Cambridge-Universität aus meinem LinkedIn-Daten über mich herausliest, nicht dem entsprechen, was ich mir für mein aussagekräftiges Profil wünsche, sollte ich Anpassungen vornehmen. Der Algorithmus kann ja nur wiedergeben oder interpretieren, was vorhanden ist. Wenn man so will, kann ich das für mich also auch umgekehrt nutzen.
Was sind eigentlich heute die wichtigsten Elemente in der breiten Klaviatur eines Bewerbungsdossiers?
Ich glaube, die entscheidende Frage lautet, was für eine Persönlichkeit man ist. Das Fachliche ist ja relativ schnell abgehandelt. Habe ich die Zertifikate, verfüge ich über die geforderten Abschlüsse? Aber ausgesiebt und entschieden wird am Ende immer aufgrund der Persönlichkeit. Wie kann ich mich also auf den Kanälen, die ich verwende, sei es nun der CV, das Motivationsschreiben, meine Website oder in den sozialen Medien, im positiven Sinne authentisch darstellen?
Persönlichkeit ist also das ausschlaggebende Kriterium?
Absolut.
Besteht nicht auch die Gefahr, dass Persönlichkeit vom selektionsgetriebenen Algorithmus ausgesiebt wird?
Bei der Vorauswahl geht es ja nur um das Fachliche. Da ist der Roboter unbeirrbar: 1 oder 0. Heute weiss man in den Personalabteilungen, dass ein nicht unerheblicher Teil der Motivationsschreiben von «Ghostwritern» geschrieben wird oder zumindest nicht ausschliesslich vom Bewerber selbst. Ich persönlich glaube, dass das Motivationsschreiben deswegen an Wichtigkeit verliert. Der Lebenslauf als Zusammenfassung der Assets, die ich biete, ist natürlich sehr wichtig. Zusätzlich werden aber Social-Media-Profile und die mediale Wahrnehmung klar an Bedeutung gewinnen.
Wenn Persönlichkeit das entscheidende Kriterium ist, was sind weitere Möglichkeiten, der eigenen Persönlichkeit im Bewerbungsprozess Ausdruck zu verleihen?
Ein Drei-Minuten-Video über mich, meine Stärken und meine Persönlichkeit ist natürlich immer gut. Auch ganz unabhängig von einer konkreten Bewerbung – nicht zuletzt auch für mich selbst. Diese ganz persönliche Auseinandersetzung mit mir selbst ist wichtig. Alles, was besonders ist, auffällt, sich kreativ abhebt, ist in einer Bewerbung sehr gut. Das Ultimative wäre natürlich, sich für einige Stunden einen Coach zu nehmen. Wo sieht der meine Stärken und Potenziale? Mich und meine Aussenwahrnehmung möglichst neutral zu reflektieren. Fast so neutral, wie es der Algorithmus tun würde.