Leistungstreiber Digitalisierung
Leistungssteigerung, bis der Kopf streikt
Die Digitalisierung soll die Effizienz steigern und das Leben vereinfachen. Was für Erwerbstätige verheissungsvoll tönt, ist ein zweischneidiges Schwert. Die Digitalisierung erhöht auch das Arbeitstempo und die geforderte Denkleistung. Das beeinflusst den Stresspegel und bringt viele Menschen an ihre Leistungsgrenze.
Digitalisierung und Leistungssteigerung – Grenzen der exzessiven Effizienz
Text MAJA BOSSHART
Fotomontage ANJA PIFFARETTI
«Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass mein Alltag nicht stressig ist.» Wer so eine Aussage macht, befindet sich in bester Gesellschaft. In der Schweiz leiden gemäss der aktuellen Studie der Gesundheitsförderung Schweiz rund drei von zehn Erwerbstätigen unter Stress am Arbeitsplatz. Doch diese Aussage stammt nicht von irgendjemand, sondern von einem, der sich beruflich mit dem Thema Arbeit und psychische Gesundheit beschäftigt, namentlich mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf die Gesundheit von Berufstätigen – Stephan Böhm, Direktor Center for Disability and Integration an der Universität St. Gallen. Er führte unabhängig von der Gesundheitsförderung Schweiz eine Studie durch und ging der Frage nach, inwiefern die Digitalisierung Stress oder gar emotionale Erschöpfung beeinflusst und welche Massnahmen dem entgegenwirken können. Die Daten der 2019 veröffentlichten Studie wurden in Deutschland erhoben, doch Stephan Böhm geht davon aus, dass die Ergebnisse auf die Schweiz übertragbar sind, denn «die Fragen, die wir stellen, haben am Ende nicht direkt mit Deutschland zu tun, sondern es ging darum, zu schauen, wie bestimmte Verhaltensweisen wirken». Eine Erkenntnis vorweg: Die Studie zeigt einen signifikanten Zusammenhang auf zwischen steigender Digitalisierung und emotionaler Erschöpfung, besser bekannt als Burnout, sowie Konflikten zwischen Arbeit und Familienleben.
Vorderhand überrascht das, liegt doch die Stärke der Digitalisierung in der Möglichkeit, die zur Verfügung stehende Zeit effizienter und flexibler zu nutzen. Dank dem technologischen Fortschritt mit Internet, hohen Bandbreiten, dem virtuellen privaten Netzwerk (VPN) für eine sichere, verschlüsselte Onlineverbindung und mehr wurden flexible Arbeitszeiten und -orte möglich.
Stephan Böhm, Universität St. Gallen
Die Flexibilisierung hat, gemäss Böhm, einen günstigen Einfluss auf die Gesundheit von Erwerbstätigen, «denn ihre Arbeits- und Privatleben lassen sich so besser in Einklang bringen». Die Folgen: weniger Stress, weniger Schlafprobleme und weniger emotionale Erschöpfung. Und bei der Arbeit kann die Zeit besser genutzt werden für die anspruchsvolleren Tätigkeiten. Denn monotone und standardisierte Prozesse werden heute von Algorithmen erledigt.
Als Konsequenz davon haben sich die Aufgabenprofile vieler Erwerbstätiger verändert. «Wir haben tendenziell eine zunehmende Verdichtung und Komplexität, weil Jobs, die einfach und repetitiv sind und die wenig soziale Interaktion brauchen, digitalisiert werden», so Böhm. Konkret heisst das: Der Arbeitsalltag vieler Berufstätiger besteht zunehmend aus komplexen und damit denk- und entscheidungsintensiven Tätigkeiten. Die Berufstätigen müssen viele Informationen verarbeiten, die ein hohes Mass an Denkvermögen erfordern, und müssen immer mehrere Aspekte gleichzeitig im Auge behalten. Diese Tätigkeiten kosten viel Energie und sind besonders anstrengend, weil die monotonen Tätigkeiten, die zwischendurch für Entspannung sorgen würden, immer häufiger wegfallen.
Kommt dazu, dass mit Hilfe der Digitalisierung diese kopflastigen Tätigkeiten auch noch innerhalb immer kürzerer Zeit erledigt werden können. So hat gemäss Job-Stress-Index 2020 das gefühlte Arbeitstempo in der Schweiz seit 2016 deutlich zugenommen. Die beschriebenen Veränderungen lassen sich mit dem Begriff «zunehmende Arbeitsdichte» oder «Arbeitsintensivierung» zusammenfassen. Gemeint ist damit die Zunahme der bei der Arbeit geleisteten Anstrengung pro Zeiteinheit.
Leistungsbremse Kopf
Doch diese Leistungssteigerung bekommt nicht allen Arbeitstätigen. Gemessen am Stresslevel erleben viele Schweizer Erwerbstätige die Veränderungen im Dienst der Effizienz als belastend. Die Autorinnen und Autoren des Job-Stress-Index 2020 vermuten, dass die Arbeitsintensivierung durch die immer stärkere Digitalisierung auch in der Schweiz zunehmend zu einer Belastung wird. Die Gesundheitsförderung Schweiz ermittelt seit 2014 regelmässig Kennzahlen zu arbeitsbedingtem Stress und zu seinen Zusammenhängen mit Gesundheit und Produktivität in der Schweiz und publiziert die Zahlen im Job-Stress-Index. Als Stress gilt ein Ungleichgewicht zwischen Belastungen, mit denen eine Person konfrontiert wird, und den verfügbaren Bewältigungsmöglichkeiten.
Geht man davon aus, dass, wie in der Studie von Stephan Böhm belegt, die zunehmende Digitalisierung einen signifikanten Einfluss auf die emotionale Erschöpfung hat, lassen die hohen Zahlen aus dem Job-Stress-Index 2020 aufhorchen: 2020 hat sich der Stresslevel der Schweizer Erwerbstätigen gegenüber 2014 signifikant verschlechtert, von 24,8 Prozent auf 29,6 Prozent. Und unter emotionaler Erschöpfung leiden mit 28,7 Prozent annähernd ein Drittel der Erwerbstätigen.
Das hat folgenschwere Konsequenzen, nicht nur für den Alltag von Betroffenen und deren Umfeld. Durch die gesundheitlichen Folgen von arbeitsbezogenem Stress bleiben betroffene Erwerbstätige der Arbeit fern, oder sie sind anwesend, aber nicht voll leistungsfähig. Und das führt, abgesehen von den hohen Gesundheitskosten, auch für die Firmen zu einem hohen Preis: Hochgerechnet 7,6 Milliarden Franken kostete im Jahr 2020 arbeitsbezogener Stress die Betriebe in Form von Produktivitätsverlusten, berechnete der Job-Stress-Index 2020. Das ist der höchste Wert seit Messbeginn 2014. Im Jahr 2018 waren es noch 6,54 Milliarden Franken.
Stephan Böhm
Die Leistungssteigerung ist aber nur ein Aspekt der Digitalisierung, der vielen Erwerbstätigen zusetzt. «Die Digitalisierung ist ein zweischneidiges Schwert, was die Gesundheit von Erwerbstätigen angeht», sagt Stephan Böhm. «Sie kann die Gesundheit auf gesundheitsfördernde oder gesundheitsschädigende Weise beeinflussen.» Demnach können die positiven Errungenschaften auch ins Negative kippen, wenn der Faktor Mensch reinspielt. Wenn beispielsweise die Aufhebung von fixen Arbeitszeiten- und -orten schlecht umgesetzt wird, sprich: ohne klar definierte Erwartungen oder ohne Einbezug der Mitarbeitenden, dann können die gesundheitsförderlichen Eigenschaften der Flexibilisierung zunichte gemacht werden. Die dadurch entstehende zeitliche und örtliche Orientierungslosigkeit lässt die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben verschwimmen. Bleibt die Erholung langfristig auf der Strecke, nehmen Stress, Schlafprobleme und emotionale Erschöpfung zu.
Rundum auf Empfang
Die Entgrenzung von Arbeit und Privatleben wird, gemäss Stephan Böhm, von einem weiteren Phänomen der Digitalisierung begleitet: der permanenten Erreichbarkeit. Da auch das soziale Umfeld vom Digitalisierungsschub betroffen ist, werden digitale Medien bei der Arbeit und auch in der Freizeit genutzt. SMS, E-Mails, soziale Netzwerke, Apps und andere virtuelle Kommunikationskanäle – einige davon sind so programmiert, dass sie eine ständige Nutzung begünstigen. Und wenn sie immer auf Empfang sind, ist es auch der Kopf. Der lässt sich aber nicht per Knopfdruck abstellen. Selbstredend, dass sich dies irgendwann negativ auf die psychische Gesundheit auswirkt.
Immer schneller, immer mehr
Die durch die Digitalisierung ermöglichte Leistungssteigerung macht sich auch bei den Veränderungszyklen bemerkbar. Alles hat eine kürzere Lebensdauer – Trends, Produkte, Wissen, Fertigkeiten, Geräte und Technologie. Vom technologischen Wandel sind praktisch alle Branchen und Berufe betroffen. Aber besonders in hochtechnologischen Berufen, wo Mitarbeitende häufig mit neuen Technologien konfrontiert werden, wird ständig gefordert, mit den eigenen Fähigkeiten dranzubleiben und sich neues Wissen und neue Fähigkeiten anzueignen, so Stephan Böhm. Andernfalls könnte dies den Verlust des Arbeitsplatzes zur Folge haben. Das erhöhe den technologischen Anpassungsdruck und führe dazu, dass Beschäftigte sich genötigt fühlen, immer schneller und mehr zu arbeiten.
Viele Menschen empfinden das als Technostress, so Stephan Böhm. Das erzeuge einen hohen Druck und fördere die Angst, irgendwann den Aufgaben nicht mehr gewachsen zu sein. Nicht wenige reagieren darauf mit grosser Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Wenig hilfreich, wenn Erwerbstätige aufgrund des technologischen Fortschritts noch mit Informationen überladen werden, die für ihre Arbeit nicht direkt relevant sind. Die meisten Arbeitnehmenden kennen sie, die Flut an irrelevanten E-Mails, die von der eigentlichen Aufgabe ablenkt. Das sogenannte Kommunikationsrauschen erfordert vom Einzelnen zusätzliche Energie, sich immer wieder auf die eigentliche Aufgabe konzentrieren zu können. Zu viel Energie, wie sich zeigt. In seiner Studie kommt Stephan Böhm zum Schluss, dass der technologische Anpassungsdruck und das Kommunikationsrauschen massgeblich zu einer emotionalen Erschöpfung beitragen. Ausgelöst wird sie von der Angst, den Arbeitsplatz aufgrund der fortschreitenden Technologie zu verlieren.
Angesichts des weit verbreiteten und hohen Stresslevels sowie der emotionalen Erschöpfung bleibt die Frage nach der Fürsorgepflicht und der Stresshaftung, namentlich der gesetzlichen Pflicht der Arbeitgebenden, die Gesundheit ihrer Mitarbeitenden zu schützen. Da übermässiger Stress zu Erschöpfung führen kann, besteht hier Handlungsbedarf. Gemäss Job-Stress-Index 2020 trügen nicht nur ungünstige Arbeitsbedingungen, sondern beispielsweise auch private Belastungen zum Stress bei. Jedoch gehörten die Arbeitsbedingungen zu den wichtigsten Einflussfaktoren und sollten somit in der Stressprävention und in der Gesundheitsförderung besondere Beachtung finden.
Lösungen sind bisher nur ansatzweise vorhanden. Einige Unternehmen setzen auf Tools, die zu bestimmten Tageszeiten den Zugriff auf IT und Technologie verwehren. Firmen wie Swisscom oder die Schweizerische Post haben beispielsweise im Gesamtarbeitsvertrag ein Recht auf Nichterreichbarkeit unterzeichnet. Andere Unternehmen versuchen, mit Arbeitszeiterfassung ausbordende Arbeitszeiten sichtbar zu machen, oder sie zählen auf die Selbstregulation der Arbeitnehmenden. Das ist aber insofern fragwürdig, als die Verantwortung für das Stressmanagement an die Angestellten delegiert würde.