Wahre Berufung. Tamiko findet ihren Weg und ihre Gabe, die Selbstheilkräfte von Menschen zu unterstützen.
Der Atem des Himmels
Anfang der 1980er Jahre als PC noch ein Fremdwort ist, arbeitet Tamiko Hechtl-Matsumi in der aufstrebenden Branche der Computertechnologie in Japan. Heute praktiziert sie selbständig als Shiatsu-Therapeutin in Biel. Doch der Weg hin zu ihrer wahren Berufung ist gepflastert mit schmerzlichen Erfahrungen und Schicksalsschlägen.
Tamiko Hechtl-Matsumi in ihrer Shiatsu-Praxis am Unteren Quai in Biel
Text JACQUELINE PORRAS PALACIOS
Fotos SIMONE GLOOR
Der Untere Quai in Biel strahlt noble Eleganz aus. Gesäumt von stilvollen alten Stadthäusern und einer Baumallee fliesst «La Suze» aus dem tiefen Neuenburger Jura in den hier nahen Bielersee. Im obersten Stockwerk eines Eckhauses befindet sich die Praxis von Tamiko.
Shiatsu basiert auf den Prinzipien der chinesischen Medizin und arbeitet mit den zwölf Meridianen, den Energiebahnen im Körper. Auch Akupunktur, Tai Chi, Kigong, alles folgt diesem Prinzip. Die Heilmethode Shiatsu wird auch beschrieben als die Kunst des Berührens. «Fliesst das Ki (siehe Kasten) nicht mehr frei, dann kommt die Blockade, auf allen Ebenen», erklärt Tamiko. «Körper, Geist und Seele sind eine Einheit. Belasten uns Probleme auf geistiger oder emotionaler Ebene, bekommt auch der Körper zwangsläufig ein Problem.»
Das Ki
Das Ki wird in der chinesischen Medizin auch als «Atem des Himmels» bezeichnet. Es lässt sich schwer in Worte fassen, am besten passt wohl Lebensenergie. Das Ki fliesst durch die Meridiane, feinstoffliche Kanäle, um den menschlichen Körper zu nähren und zu energetisieren. Eine Erkrankung ist immer eine Störung, eine Disbalance des Ki-Flusses. Die Meridiane bilden die Matrix, worin der physische Körper mit dem feinstofflichen Energiekörper kommuniziert. Das Ki ist die vibrierende Natur der Phänomene auf molekularer, atomarer und subatomarer Ebene. Die Bedeutung des chinesischen Schriftzeichens für Gesundheit ist «ursprüngliches Qi». Die zwölf Hauptmeridiane sind jeweils einem bestimmten Element (Metall, Erde, Feuer, Wasser, Holz) und einem Organsystem zugeordnet.
Japanische Tradition und Schweizer Essen
Tamiko wächst auf in Japan und wird stark geprägt von Kultur und Tradition. Sie erzählt von ihrer Familie und der Schule: «Meine Mutter war sehr versiert mit natürlichen Heilmethoden. Auch die Suche nach der eigenen Mitte im Leben war ein wichtiges Thema. In der Schule ist es in Japan nicht so locker wie in der Schweiz. Wir lernen mehr Respekt vor älteren Leuten, vor den Lehrpersonen. Im Schulzimmer sitzen die Kinder in schnurgeraden, exakten Reihen. Es ist still, niemand spricht, man bewegt sich kaum.»
An einer Sprachschule in England lernt sie ihren Ehemann kennen. Mit 30 Jahren kommt Tamiko in die Schweiz, sie heiratet und wird bald darauf Mutter einer Tochter. Die ersten zehn Jahre in der Schweiz waren schwierig für Tamiko, sie erinnert sich: «Am Montagmorgen waren alle Supermärkte geschlossen; in Japan ist alles immer offen, auch sonntags, das war schon komisch. Und die Angestellten kamen nicht auf mich zu und boten mir ihre Hilfe an, wie in Japan üblich. Das Leben hier, die Denkweise, die Kommunikation, alles ist ganz anders als in Japan.»
«Vor allem das Essen war ein Kulturschock!», meint Tamiko lachend. «Essen ist ein wichtiges kulturelles Element in Japan, die Zubereitung spielt sich auf verschiedenen Ebenen ab. Wichtig ist die Balance, alles kommt in gleicher Priorität auf den Tisch: Gemüse, Algen, ein bisschen Fleisch oder Fisch, gegärte Sachen, Sojaprodukte. Japanisches Essen ist sehr gesund. Das Fleisch wird hier in grossen Stücken verkauft, nicht so feingeschnitten wie in Japan. Ich wusste nicht, wie ich das kochen sollte; am Stück, in Scheiben?» Tamiko lacht mit ihrer leisen Stimme.
Programmierung und Teezeremonie
Nach Ende der Schulzeit absolviert Tamiko eine Ausbildung für Computerprogrammierung. «Damals war es für Frauen in Japan sehr schwierig, einen Job zu finden oder an der Uni zu studieren», erinnert sich Tamiko. «Doch die Fachschule hatte Kontakte zu Firmen, sie organisierte die Bewerbungsverfahren, ich bestand die Prüfungen und konnte dann bei einer grossen IT-Unternehmung anfangen. Wir arbeiteten mit riesigen Magnettapes und grossen Bildschirmen. Überall lagen haufenweise dicke Kabel, und alle Daten mussten auf die Tapes geladen werden.» Tamiko muss lachen: «Heute verschickt man grosse Datenmengen in Sekundenschnelle, wir verschickten unsere Tapes per Post.»
Es gibt viel zu tun, Arbeitstage bis acht Uhr abends mit vielen Überstunden sind die Regel, dazu kommt ein langer Arbeitsweg. Bei einem neuen Projekt bleiben die Angestellten manchmal auch über Nacht. «Die Arbeit war schon faszinierend, diese rasante Entwicklung mitzuerleben», meint Tamiko. «Aber mit der Zeit wurde ich müde. Nie war ein Ende in Sicht, immer nur Updates machen, Update, Update. Und so viele Arbeitsstunden!»
In ihrer Freizeit besucht Tamiko traditionelle japanische Teezeremonien bei einer Freundin ihrer Mutter. Sie erzählt: «Mit Chado fand ich einen ersten Zugang zu meiner eigenen Mitte. Ich konnte mich dort in der Stille zentrieren und den Kopf leer machen. Das gefiel mir, es tat mir gut.» Später wird sie selber eine Chado-Meisterin; viele Jahre führt sie selbständig Teezeremonien durch. «Eine Chado-Zeremonie ist aufwendig: Die Räume werden nach speziellen Vorgaben vorbereitet, es gehören perfekt arrangierte Blumen dazu, es dürfen nur saisonale Produkte verwendet werden, der Kimono muss hergerichtet werden, die ganze japanische Kultur wird zelebriert. Es geht auch um mentale Schulung und die fünf Elemente: Holz, Feuer, Metall, Wasser und Erde. Oh ja, es ist kompliziert mit dem Teetrinken in Japan», lacht Tamiko.
Schwäche und Erschöpfung
Seit Tamiko in der Schweiz lebt verschlechtert sich ihre Gesundheit zunehmend. «Mir sind viele negative Sachen passiert und ich erlebte in kurzer Folge mehrere schwere familiäre Schicksalsschläge», berichtet sie. «Heute weiss ich, dass alles mit dem Tao (siehe Kasten) in Verbindung steht. Es ist kein Zufall, dass ich hier bin und mein Schicksal mich vor diese Aufgaben stellt.»
Die Schwangerschaft und die Zeit nach der Geburt verzehren sämtliche Kraftreserven, Tamiko ist sehr schwach geworden. Sie kann kaum noch laufen, nicht genug essen und trinken. Doch sie meint, das sei normal nach einer Geburt. Dieser Schwächezustand dauert über drei Jahre, und es geht ihr immer schlechter. Sie fühlt sich oft niedergeschlagen, wird leicht depressiv. «Heute nennt man diese Anzeichen wohl Erschöpfungssyndrom oder Burnout», sagt Tamiko. «Ich hatte nicht richtig auf mich geschaut, nicht gespürt, wie kaputt ich war.» Sie spürt eigentlich überhaupt nichts mehr in dieser Zeit. Und sie kann es nicht aussprechen, wie sie sich fühlt, was mit ihr passiert. Sie erlebt Wellen von Überemotion, beginnt plötzlich zu weinen aus nichtigem Anlass. Ernste Anzeichen für Tamiko; sie realisiert, dass sie etwas ändern muss, etwas stimmt nicht mehr.
Tamiko Hechtl-Matsumi, Shiatsu Therapeutin
Die Wende
Kurz vor ihrem vierzigsten Geburtstag erleidet Tamiko einen Skiunfall. Ihr Knie ist verletzt, ziemlich schwer, und sie muss drei Wochen lang ruhig zuhause bleiben. Zum Glück ist der Knochen nicht verletzt, doch sie muss eine Schiene tragen und der Arzt verordnet ihr Physiotherapie. «Warum passiert mir das alles?», fragt sich Tamiko. «Sicher, ich war körperlich schwach geworden, hatte zuwenig trainiert. Doch da musste noch mehr sein; ich suchte nach Antworten auf geistiger, emotionaler Ebene.»
Sie beginnt in dieser Zeit Bücher zu lesen über Psychologie, Religion, Traumaverarbeitung, Rückführungen in frühere Leben und ähnliche Themen. Besonders ein japanischer Autor fasziniert sie: Kaiichi Ueno. «Er schrieb über die Natur, natürliche Heilmethoden, die chinesische Medizin und Spiritualität», erzählt Tamiko. «Er hatte Shiatsu und Akupunktur studiert und plötzlich war mein Fokus bei Shiatsu, das hat mich tief berührt. Die holistische, ganzheitliche Betrachtungsweise; in Harmonie zu leben auf allen Ebenen, im Einklang mit Körper, Geist und Seele, mit der Erde und dem Universum.»
In dieser Zeit probiert Tamiko viel Neues aus. Yoga, Gyrotonic, Gyrokinesis, Reiki, Aikido, Modern Ballet, Tai Chi, Kigong, Noguchi Taiso. Tamiko resümiert: «Es ist schwierig, alles in Worte zu fassen, was damals mit mir passiert ist. Es ist ein Prozess, eine Entwicklung gewesen. Ich erkannte, dass es in diesem Leben für jeden Menschen verschiedene Aufgaben gibt. Jeder hat sein Tao, seinen Weg. Hilfreich dabei ist, wenn man flexibel bleibt, die Augen öffnet, die vielen Möglichkeiten sieht und dann seinen Weg wählt: Und los gehts! Wenn der Mensch zu sehr in seinen Gewohnheiten und Mustern verharrt, wird das Leben träge, und es wird schwierig, von dort wieder wegzukommen. Dann passiert aber etwas Unerwartetes, und das sind Zeichen: Hey, aufwachen, tu etwas! Bei mir war es dieser Skiunfall, es war ein Zeichen, dass ich auf dem falschen Weg war.»
Das Tao
Tao bedeutet die Beobachtung der Natur und die Entdeckung des Weges, des natürlichen Laufs der Dinge. In der Natur gibt es überall sich wiederholende Abläufe: Sonne und Mond, der Wechsel der Jahreszeiten, die Gezeiten. Diese Zyklen von Wachstum und Bewegung zeigen uns die Regeln des Lebens. Der Mensch findet Ruhe, wenn er sich dem Tao anpasst, mittels Intuition und Spontanität; man soll dem Tao seinen Lauf lassen. Wer Veränderung bedauert, sich an Dinge klammert und sie festhalten will, steht still. Er erzeugt Reibung mit dem, was sich fortbewegt, so findet er keine Ruhe. Man meistert die Umstände, indem man «mit dem Fluss mitgeht», sich nicht dagegen behauptet. Das Prinzip der taoistischen Aktivität ist Spontanität, Handeln gemäss seiner Natur, Vertrauen in seine Intuition.
Die seelische Ebene und das Ki
Tamiko beginnt 2002 ihre mehrjährige Shiatsu-Ausbildung. Sie erinnert sich: «Zu Beginn der Ausbildung war mein Ki total erschöpft. Nach jedem Seminar oder einer Übung brauchte ich viel Erholung.» Manchmal beginnt Tamiko plötzlich zu weinen, sie weiss nicht warum. «Mein Kopf war leer, aber meine Antennen erfassten irgendetwas, bearbeiteten es und produzierten Tränen. Auch heute noch geschieht mir das manchmal und ich weine. Aber es befremdet mich nicht mehr, denn ich weiss, dieses Etwas ist das Ki, das mich berührt.»
Tamiko will so schnell wie möglich gesund und stark werden. Die Ausbildnerin meint einmal, ihre Eigenbehandlung sei wie ein «Shinkansen», so heissen die japanischen Hochgeschwindigkeitszüge. «Doch das Gesundwerden erfordert die Qualität der Zeit», weiss Tamiko heute. «Ich war nicht in der Mitte, nicht geerdet, und ich liess mich zu viel von äusseren Dingen beeinflussen. Aber von jetzt an versuche ich auf mein Herz zu hören. Ich will mir Zeit nehmen, für mich und meine Aufgabe, die Dinge im Leben und für meine Mitmenschen.»
So wie Tamiko müssen auch die Menschen, die zu ihr in die Praxis kommen, ihr Tao finden, ihren ureigenen, natürlichen und gesunden Weg. Tamiko erzählt nachdenklich: «Zu Beginn kamen mehr Leute wegen körperlicher Beschwerden. Seit ein paar Jahren kommen viel mehr mit psychischen Problemen, Depressionen und Burnout, vor allem junge Leute. Sie stehen unter Druck mit Lernen, sie müssen noch dieses und jenes Diplom haben. Zu viele Bilder und Informationen dringen ständig auf sie ein, das Handy beansprucht so viel Zeit. Diese Gegenwart ist einfach zu schnell, wir müssen entschleunigen, Tempo verlieren.»