Unfreiwillige Teilzeitarbeit
Intensiver Job, kleines Kind, betagte Mutter – und dazwischen ich
Wer erst in fortgeschrittenem Alter Nachwuchs bekommt, kann sich schnell in einer Zerreissprobe wiederfinden, wenn nicht nur das kleine Kind Betreuung braucht, sondern plötzlich auch die eigene betagte Mutter. Wie Care-Arbeit das berufliche Teilzeitpensum schleichend schrumpfen lassen kann – bis die Zeit fürs Geldverdienen ganz fehlt. Ein Erfahrungsbericht.
Mehr als ein Drittel der ständigen Wohnbevölkerung im erwerbstätigen Alter (18 bis 64 Jahre) nimmt mindestens eine regelmässige Betreuungsaufgabe für Kinder oder erwachsene Familienmitglieder wahr.
Text ESTHER BANZ
Illustration ANJA PIFFARETTI
Als ich im besten Heirats- und Fortpflanzungsalter war, lag mir das Thema Familiengründung eher fern. Dann kam ein neuer Mann in mein Leben. Ich war da bereits 43 Jahre alt. Wir hatten grosse Freude aneinander und meinten, das mit der Verhütung sei nicht mehr so wichtig – in diesem fortgeschrittenen Alter.
Wir wurden also Mutter und Vater, vier Wochen vor meinem 45. Geburtstag. Mein Partner – auch er bis dahin zufrieden kinderlos – war 46 Jahre alt. Weil auch meine Mutter schon 39 Jahre alt war, als sie mich zur Welt brachte, und mein Mann das jüngste Kind wiederum seiner Eltern war, sollte unsere Tochter nicht nur sogenannt «späte Eltern» haben, sondern auch recht betagte Grosseltern. Was das bedeuten würde, war mir zu dem Zeitpunkt aber noch überhaupt nicht bewusst.
Unsere Tochter wuchs heran. Ich hatte mein Arbeitspensum reduziert, um Zeit mit diesem Wunder verbringen zu können, und das nicht nur in den oft hektischen oder von Müdigkeit geprägten Randzeiten. Einen grossen Teil der Care-Arbeit leistete aber auch die Kita, später der Kindergartenhort. Meine Mutter kam als regelmässige Betreuerin nicht infrage, weil sie körperlich schon zu eingeschränkt war, um sich einen halben oder sogar einen ganzen Tag um ein Kleinkind kümmern zu können; ausserdem lebte sie in einer anderen Stadt.
Für die nur wenig jüngere Mutter meines Mannes ist regelmässiges Kinderhüten ebenfalls zu viel, immerhin punktuell kann sie übernehmen. Dass ich unsere Väter so selbstverständlich nicht als mögliche Kinderbetreuer erwähne, liegt daran, dass meiner schon lange tot und der meines Mannes ebenfalls altersbedingt körperlich zu eingeschränkt ist. Aber eine Tante meines Mannes hütete bis vor kurzem an einem Nachmittag die Woche, obwohl auch sie bereits 80 ist.
«Radikale Pausenlosigkeit»
Dennoch lief in unserer Familie eigentlich alles rund mit der Care-Arbeit. Die übliche Doppelbelastung-trotz-Fremdbetreuung eben, die Ehen zum Scheitern oder (meist) die Mütter in die Reha bringt. Oder beides. Denn es trifft zu, was die Soziologin und Genderforscherin Franziska Schutzbach schreibt: «Elternsein bedeutet radikale Pausenlosigkeit» – unabhängig vom eigenen Alter.
Zusätzlich besuchte ich regelmässig meine inzwischen auf die 90 Jahre zugehende Mutter und rief sie fast täglich an – ihre ersten Worte bei der Begrüssung waren oft: «Wie schön, von dir zu hören, nach einem halben Monat wieder einmal!» Der zunehmenden Vergesslichkeit war eine Operation mit Vollnarkose vorausgegangen. Mir wurde gesagt, ihr Erinnerungsvermögen könne auch wieder besser werden. Das wurde es nicht, und sie war mehr und mehr auf Betreuung und Pflege angewiesen – irgendwann war klar, dass meine Mutter zumindest vorübergehend in ein Altersheim musste.
Zerreissprobe: Mutter oder Kind?
Die Abklärungen und die Telefonate auch mit ihr nahmen zunehmend mehr Zeit in Anspruch. Schliesslich auch meine Besuche in der fernen Stadt. Ich versuchte, an den Wochenenden zu ihr zu fahren, weil ich ja nicht einfach mein Arbeitspensum um weitere 20 oder noch mehr Prozent kürzen konnte. Ging ich an einem Wochenendtag, bedeutete das aber immer auch, dass die kostbare Zeit, die ich mit dem so schnell grösser werdenden Kind verbringen konnte, knapper wurde. Also doch unter der Woche gehen, wenn es ohnehin im Kindergarten oder im Hort ist? Aber wer bezahlt mir dann den Lohnausfall, den ich als Selbständige habe, wenn ich weniger Aufträge annehmen kann?
Irgendwann musste ich mir diese Frage nicht mehr stellen: Meine Mutter wurde abermals ins Spital eingeliefert, und es war klar, dass ich nun auch unter der Woche zu ihr fahren würde. Und irgendwann war auch klar, dass sie trotz Spitex nicht mehr nach Hause würde zurückkehren können, sondern auf konstante Betreuung in einem Pflegeheim angewiesen bleiben würde.
Nun musste ich gegen ihren Willen ihre Wohnung kündigen und ihren gesamten Besitz sichten, sortieren, räumen, entsorgen. Ausserdem: alles mit dem Spital und dem Altersheim regeln, ebenso mit den Behörden, der Krankenkasse, der Bank. Und nicht zuletzt mit den Vermietern und den Nachbarn, und natürlich gab es auch Fragen und Austausch mit Angehörigen und Freundinnen. Einer meiner Brüder, der wegen der Corona-Pandemie gerade auf Kurzarbeit war, unterstütze mich dabei sehr – was für ein Glück. Dennoch war ich chronisch überfordert, vergass da ein Telefonat, füllte dort ein Formular nicht richtig aus oder musste ermahnt werden, es überhaupt zu tun.
«Es tut mir so leid!»
Mehr als einmal entschuldigte ich mich bei Aufgaben, die meine Mutter betrafen, mit den Worten: «Es tut mir so leid! Ich bin gerade überfordert mit diesen Aufgaben obendrauf zu meinem beruflichen Eingespanntsein und meinen Verpflichtungen und Aufgaben als Mutter eines Kindes im Kindergartenalter.» Und bei Verzögerungen, die meine Tochter betrafen, entschuldigte ich mich mit: «Es tut mir so leid! Ich bin gerade etwas überfordert wegen der zusätzlichen Aufgaben, die ich für meine bald 90-jährige Mutter erledigen muss, obendrauf zu meiner Berufstätigkeit und meinen Verpflichtungen und Aufgaben als Mutter.»
Bald kam der Tag, an dem klar war, dass ich mehr berufliche Aufträge absagen oder wo immer möglich verschieben musste. Ich weiss nicht, wie viele Stunden und Tage ich für die Belange meiner Mutter arbeitete oder einfach für sie da war, weil sie mich brauchte, wenigstens meine Aufmerksamkeit, mein Zuhören – aber es waren kumuliert innert zweier Jahre sicher mindestens zwei Monate.
Ich nahm mir die Zeit, weil es mir wichtig war, diese Betreuungsarbeit zu leisten. Und ich fragte mich wiederholt: Könnte ich auch als Angestellte so oft frei nehmen?
Nach einem Jahr im Altersheim verschlechterte sich der gesundheitliche Zustand meiner Mutter wieder dramatisch – und sie verstarb innerhalb weniger Tage. An einem Samstag. Ich konnte bei ihr sein. Eigentlich schon die Tage davor, als sie im Sterben lag, denn als Selbständige nahm ich mir diese Tage einfach kurzerhand frei. Ich musste niemanden fragen, bloss informieren. Einmal mehr war ich dankbar für das Privileg, weitgehend selbstbestimmt arbeiten zu können. Die böse Überraschung liess noch auf sich warten.
Die Trauer kommt obendrauf
Vorerst war ich einfach froh, dass wir die Wohnung bereits im Jahr davor geräumt hatten – und «nur» noch das Zimmer im Altersheim blieb. Sowie alles rund um die Beerdigung zu organisieren. Ich nahm weitere Tage frei. Ich hatte zum Glück keine unmittelbar bevorstehenden Abgabetermine. Und wieder fragte ich mich: Wie machen das all die Leute, die angestellt sind? Einen mehrtägigen Sterbeprozess begleiten. Unzählige Telefonate mit Angehörigen und Bekannten. Das Zimmer räumen. Die verbliebenen letzten Habseligkeiten sortieren – lauter Erinnerungsstücke und andere Sachen von emotionalem Wert. Die Beerdigung planen. Für die Rede zur Würdigung ihres langen Lebens recherchieren und einen Text dazu schreiben. Die Todesanzeige verfassen. Adressen ausfindig machen. Das Leidzirkular gestalten. Couverts anschreiben und zur Post bringen. Mehr Telefonate. Auf Fragen von Behörden antworten. Abonnemente und anderes kündigen. Und immer wieder: Entscheidungen treffen. Etwa welches Kleid die Mutter tragen soll, wenn ihr lebloser Körper verbrannt wird. Die Trauer kommt obendrauf. Dadurch, dass ich meine Arbeitszeit kurzfristig auf null gesetzt hatte, musste ich keine Termine wahrnehmen, niemandem etwas vorspielen – ich konnte einfach weinen, wenn mir danach war. Wie machen das andere?
Erst zwei Monate nach dem Tod meiner Mutter wurde die Tatsache, dass ich in der Zeit davor und seither viele Arbeiten abgesagt, delegiert oder vertagt hatte, zu einem tatsächlichen Problem. Weil ich kaum noch Einnahmen hatte. Ob das Erbe den Erwerbsausfall decken wird, weiss ich noch nicht. Denn von dem Freibetrag für sie als Alleinstehende mit Ergänzungsleistungen wird nach Bezahlen der Steuern und anderer letzter Rechnungen nicht mehr viel übrig sein.
Wie machen das andere?
PS: Meine Schwiegermutter hat etwas Vermögen und beschlossen, all ihren Enkelinnen und Enkeln vorzeitig davon etwas zukommen zu lassen. Unsere kleine Tochter hat jetzt mehr Geld auf ihrem Konto als ihre beiden Eltern zusammen. Alles wird gut.
Betreuungsarbeit
Was gilt in der Schweiz, und wer ist betroffen?
In der Schweiz sind Arbeitnehmende beim Tod enger Familienmitglieder maximal drei Tage arbeitsbefreit. Beim Tod naher Verwandter oder Bekannter einen Tag. Werden Angehörige, die im gleichen Haushalt leben (Partner, Kinder), krank, beträgt der Urlaub höchstens drei Tage pro Ereignis und höchstens zehn Tage pro Jahr. Dasselbe gilt auch, wenn man die eigenen Eltern pflegt. Bei den eigenen Kindern sind es bei gesundheitlich schwerer Beeinträchtigung aufgrund einer Krankheit oder eines Unfalls höchstens 14 Wochen.
Mehr als ein Drittel der ständigen Wohnbevölkerung im erwerbstätigen Alter (18 bis 64 Jahre) nimmt gemäss Auswertung der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung von 2018 des Bundesamts für Statistik mindestens eine regelmässige Betreuungsaufgabe für Kinder oder erwachsene Familienmitglieder wahr. Und von den 40- bis 54-Jährigen leisten 4,2 Prozent sogar mehrfache Care-Arbeit, für mindestens ein Kind unter 15 Jahren und dazu auch noch für eine erwachsene Person oder ein pflegebedürftiges Kind über 15 Jahre. Arbeit, die für unsere Gesellschaft von tragender Bedeutung ist und gleichzeitig in der Regel nicht bezahlt wird, obwohl ein grosser Teil der Betroffenen ihre Arbeitszeit langfristig oder vorübergehend reduzieren muss, um beides irgendwie vereinbaren zu können: Gemäss Arbeitskräfteerhebung gaben 61 Prozent der erwerbstätigen Frauen mit Kinderbetreuungspflichten an, die Arbeitszeit reduziert zu haben. Bei den Männern sind es lediglich 14 Prozent.
«Gutes Alter»
Alte Menschen und ihre betreuenden Angehörigen
So viele Menschen wie noch nie erreichen in der Schweiz ein hohes Alter. Etwa die Hälfte jener, die auf Unterstützung angewiesen sind, werden zu Hause betreut – diese Pflegebedürftigen sind im Durchschnitt 83 Jahre alt. Und etwa die Hälfte von ihnen sei auf tägliche Unterstützung bei der Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse angewiesen, schreiben Trudi Beck und Barbara Baumeister von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in der Publikation «Gutes Alter». Diese Unterstützung werde etwa zur Hälfte durch den Partner, die Partnerin und zur anderen Hälfte durch die nachkommende Generation geleistet, in der Regel durch die Töchter. In unserem zunehmend wirtschaftlich regulierten Gesundheitssystem sei die Versorgung betagter Menschen in der Schweiz aber grundsätzlich in Schieflage geraten, schreibt in derselben Publikation der Soziologe Riccardo Pardini von der Fachhochschule Nordwestschweiz. Diese Meinung teilt eine breite Allianz von Organisationen, die sich um die Qualität der Betreuung und die Würde von betreuungsbedürftigen Menschen im hohen Alter Sorgen machen. Ein Zusammenschluss unter dem Namen «Gutes Alter» bereitet derzeit eine eidgenössische Volksabstimmung vor. Sie fordert, dass eine gute Alltagsunterstützung, Betreuung und Pflege für alle Personen im Alter in der Verfassung festgeschrieben wird. Weitere Infos: www.gutes-alter.org
Zur Person
Esther Banz, 52, arbeitet als selbständige Journalistin. Sie ist verheiratet, Mutter einer kleinen Tochter und lebt in Zürich. buerobanz.ch
.