FAU Redaktion Werkschau Text

Religionslehrerin für beeinträchtigte Menschen 

«Der Glaube ist ein Stück von mir»

Die 77-jährige Margaretha Scherrer kann auf ein bewegtes Leben zurückblicken. Sie leistete Pionierarbeit als Religionslehrerin für Menschen mit Behinderung. Für Menschen, die bis dahin von der katholischen Kirche als nicht gleichwertig eingestuft wurden.

Margaretha Scherrer (rechts) verbringt viel Zeit mit ihrer jüngeren Schwester Maria.

Text FABIAN A. MEYER

Margaretha Scherrer ist eine fröhliche und gesellige ältere Frau. Sie kleidet sich in hellen Farben (am liebsten Rosa und Weiss) und ist immer sehr modebewusst angezogen. Ihr inoffizielles Markenzeichen sind die farbenfrohen Handyhüllen – aktuell ist es eine aus blauem Kunstleder – und das rosa Portemonnaie, das an ihrem Zimmerschlüssel baumelt. Ihre positive Ausstrahlung färbt ab. Ihre fröhliche Art macht glücklich. Doch hinter der glücklichen Frau steht eine bewegte Geschichte. 

Margaretha Scherrer wird am 27. Januar 1944 in St. Gallen geboren und wächst in einfachen, aber wohlbehüteten Verhältnissen mit vier weiteren Geschwistern auf. Das grosse Leid, das der Zweite Weltkrieg verursacht, geht glücklicherweise zum grössten Teil an der kleinen Margaretha Scherrer vorbei. Lediglich bei den Lebensmitteln muss sie gewisse Abstriche machen: «Wir hatten keine Bananen, keine Orangen, das war einfach die Nachkriegszeit. Wenn man dann doch mal exotische Früchte bekam, war das ein Geschenk.»  

Hunger leiden muss sie deswegen aber nicht. Ihre Familie hat einen guten Plan: «Mein Vater und mein Grossvater hatten einen Schrebergarten, in dem sie Kartoffeln, Bohnen, Salat und Beeren anpflanzten. Das war sehr schön. Die Beeren waren der pure Luxus. Wir freuten uns sehr darüber.» Obwohl grosse Teile der Welt in Trümmern liegen, verliert Margaretha Scherrer nie die Freude am Leben. Sie kann sich unter anderem an den Beeren aus dem eigenen Schrebergarten erfreuen. 

Margaretha Scherrer als Kind.Religiöse Einflüsse
Ihr Vater kommt aus einer sehr christlichen Familie römisch-katholischer Konfession. Schon früh entwickelt die kleine Margaretha Scherrer daher einen innigen Glauben an Gott. Die christlichen Werte und Verhaltensweisen, die ihr vorgelebt werden, üben eine enorme Faszination auf sie aus. «Ich erinnere mich, wie ich als Kind sonntags immer mit meinem Vater in die Kirche ging. Ich habe ihn singen und beten gehört. Das hat mir grosse Freude bereitet.» Dieser tiefe Glaube an Gott wird sich für ihre berufliche und private Zukunft noch als wegweisend herausstellen.  

Die spätere berufliche Entwicklung hat ihre Anfänge bereits im Kindesalter. Margaretha Scherrer bemerkt früh, dass sie sich gerne mit anderen Menschen befasst. Schon bevor sie Geschwister hat, passt sie auf die Nachbarskinder auf und unternimmt mit diesen die verschiedensten Aktivitäten. «Die Kinder kamen immer gerne zu mir. Dann spielten wir gemeinsam Ball oder bastelten etwas. Das war sehr schön.» Bereits damals wird deutlich: Sie kann besonders gut mit Menschen umgehen und sich für sie begeistern.  

Doch bevor sie sich beruflich verwirklichen kann, wird sie erst einmal zu Hause gebraucht. Denn am 15. Januar 1961 kommt ihre Schwester Maria auf die Welt. Diese hat seit ihrer Geburt mit einer schweren körperlichen Behinderung zu kämpfen. Daher benötigt sie die volle Aufmerksamkeit der Familie und muss stets gut umsorgt werden. Das ist keine leichte Aufgabe.  

Ein Traum wird wahr
Trotz all ihrer sozialen Verpflichtungen innerhalb der eigenen Familie verliert Margaretha Scherrer nie ihr Ziel aus den Augen: Sie will nach wie vor Lehrerin werden und setzt alles daran, diesen Traum zu verwirklichen. Im Jahr 1966 ist es dann tatsächlich so weit: Als 22-Jährige kann sie im Blauring, dem grössten katholischen Kinder- und Jugendverband der Schweiz, ihre erste Stelle antreten. Die Verwirklichung ihres Traums rückt somit ein Stückchen näher. 

«Ich hatte wieder Kinder um mich herum. Diese waren bereits etwas älter als die Nachbarskinder damals. Ich habe gespürt: In mir steckt eine Lehrerin.» Es sei sehr erfüllend gewesen, mit diesen Kindern zu arbeiten. Mehrmals darf sie die Kinder auch ins Ferienlager begleiten. Mit der Zeit vertrauten ihr die Vorgesetzten so sehr, dass sie sogar die Lagerleitung übernehmen darf. «Ich bin an meiner Verantwortung gewachsen. So habe ich gelernt, dass es mir sehr liegt, mit Kindern umzugehen, zu arbeiten und zu leben. Diese Erfahrung hat mir auch im weiteren Leben als Religionslehrerin geholfen.»  

Ihre hervorragende Arbeit bleibt auch Aussenstehenden nicht verborgen. Ein Vikar wird während ihrer Zeit beim Blauring auf sie aufmerksam. Ihre Art zu arbeiten überzeugt ihn von ihrem Talent. «Er sagte, dass er sich mich als Religionslehrerin vorstellen könne.» Der Vikar informiert seine Kollegen, er habe jemanden, der Unterricht geben könnte. Schon bald darf Margaretha Scherrer unterrichten. Dies unter anderem in den St. Galler Quartieren Winkeln und Heiligkreuz. Mehr als zehn Jahre arbeitet sie in Winkeln. «Dann kam ein neuer Pfarrer mit einer eigenen Katechetin. Mit bischöflichem Einverständnis wechselte ich nach St. Fiden.» 

Pionierin – in vielerlei Hinsicht
Schnell merkt Margaretha Scherrer, dass sie ein besonderes Händchen für Menschen mit einer Behinderung hat. «Ich habe das zuerst bei meiner Schwester Maria gemerkt. Ich konnte je länger, je besser mit ihr umgehen. Und dann sagte mir der Bischof, er sei der Ansicht, ich könne mit beeinträchtigten Menschen arbeiten. In Rorschach sei in einer heilpädagogischen Schule eine Stelle frei.» 

So kommt es, dass sie Mitte der Siebzigerjahre, mit gerade einmal 31 Jahren, anfängt, mit Beeinträchtigten zu arbeiten. «Ich bin auf diesem Gebiet eine Pionierin. Ich war eine der ersten Religionslehrerinnen der Stadt St. Gallen für beeinträchtigte Menschen.» Margaretha Scherrer will ihre Erfahrungen und ihr Wissen auch anderen weitergeben. Deswegen baut sie gemeinsam mit Kolleginnen einen Kurs auf, der zwischen 1985 und 1987 in Chur stattfindet und von Teilnehmenden aus der ganzen Schweiz besucht wird. Dieser Kurs dient dazu, Religionslehrerinnen und Religionslehrern das Gebiet der Heilpädagogik zu vermitteln. «Auch mit diesem Kurs waren wir Pionierinnen.»  

Menschen wie wir
Doch woher kommen dieses Bestreben und diese Motivation, mit beeinträchtigten Menschen zu arbeiten? Einerseits schöpft Margaretha Scherrer ihre Motivation aus der Erfahrung, dass ihre kleine Schwester Maria ebenfalls mit einer sehr ausgeprägten Behinderung zu kämpfen hat. Margaretha Scherrer und eine Freundin sind entsetzt über die Haltung der Kirche gegenüber Menschen mit geistiger Beeinträchtigung: «Die Priester sagten, dass diese Menschen sowieso in den Himmel kommen. Da müsse man nichts Spezielles machen. Wir konnten das nicht einfach hinnehmen. Wir haben gesehen, wie offen sie sind. Wenn wir einfühlsam mit ihnen arbeiten, können sie dem Unterricht ebenso folgen und das Vermittelte verstehen wie Menschen ohne Beeinträchtigung.»  

Die Arbeit mit beeinträchtigten Menschen verändert auch ihr eigenes Weltbild: «Ich habe je länger, je mehr das Gefühl bekommen, sie stünden dem Geheimnis des Glaubens viel näher, wenn sie nicht mit dem Kopf versuchen, diesem Geheimnis näherzukommen, sondern mit dem Herzen.» Unterstützung bekommt Margaretha Scherrer auch von einem Bischof, der ihre Ansicht teilt, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung nicht anders sind als Menschen, die keine haben. Auch mit beeinträchtigten Menschen könne man ganz normal arbeiten. 

«Es lief mir kalt und warm den Rücken hinunter»
Die Arbeit mit beeinträchtigten Menschen beschert Margaretha Scherrer zahlreiche schöne Erinnerungen, auf die sie bis heute mit Freude zurückblicken kann. So unter anderem an einen Buben namens Beat: «Die Schüler durften zum Abschied Bilderbücher aus dem Unterricht auswählen. Beat wählte ein Buch über den Steuereintreiber Zachäus aus Jericho, der zu einer Menschenansammlung geeilt war, um Jesus zu sehen. Da ihm das aufgrund seiner geringen Körpergrösse zwischen all den anderen Menschen nicht gelang, kletterte Zachäus auf einen Baum, um einen Blick auf den Messias zu erhaschen. Diese Begegnung änderte Zachäus’ Leben. Beat sagte mir, auch er könne Jesus nicht immer sehen.»  

Auch wenn Beat teilweise Mühe hat, den Sohn Gottes zu «sehen», so ist er dennoch dem Glauben sehr verbunden und weiss, dass Jesus immer bei ihm ist. Um Margaretha Scherrer dies zu zeigen, klopft er ihr eines Tages auf die Schulter und sagt: «Frau Scherrer, Sie sagten ja, dass Jesus immer bei mir sei. Sie müssen doch jetzt nicht traurig sein.»  

Eine andere wichtige und schöne Erfahrung macht Margaretha Scherrer mit einem Buben namens Ignazio. Dieser hat ein schweres Downsyndrom und kann nur hören, aber nicht sprechen: «Die Kinder haben sich um mich herum im Kreis versammelt, einander etwas Gutes gewünscht und sich gegenseitig die Hände aufgelegt.» Jemandem die Hand aufzulegen, steht im religiösen Kontext für Freundschaft und die Liebe Gottes. Margaretha Scherrer erklärt: «Das Handauflegen hat die Bedeutung, dass dich Gott ganz fest gernhat. Es gibt viele Stellen in der Bibel, in denen man nachlesen kann, dass ein guter Freund einem anderen die Hand auf den Kopf oder auf die Schultern legt und ihm etwas Gutes wünscht. Der Bischof legt den Kindern auch jeweils die Hand auf den Kopf und sagt ihnen, dass Gott ihnen ganz viel Kraft gibt. Diese Kraft soll man ja spüren.»  

«Ich sagte ihnen etwas vor, und sie machten es nach. Plötzlich stand Ignazio von seinem Stuhl auf, kam zu mir und legte seine Hand auf meinen Kopf. Er sprach etwas Unverständliches. Es lief mir kalt und warm den Rücken hinunter. Er verstand, worum es bei dieser Geste geht.»  

«Ich bekam zunehmend mehr Schmerzen»
Die Arbeit macht Margaretha Scherrer zwar immer Spass und ist sehr erfüllend, jedoch geht es ihr gesundheitlich immer schlechter. «Ich hatte immer wieder Rückenschmerzen. Ich war noch jung, als ich meine erste Operation hatte. Dies, weil sich die Wirbel bewegten und auf die Nerven drückten. Ich bekam zunehmend mehr Schmerzen.» 

Arbeiten geht immer schlechter. Die Schmerzen werden immer schlimmer. «Meine Gesundheit nahm immer weiter ab. Im Jahr 1990 hörte ich mit nur 46 Jahren vorerst auf zu arbeiten. Ich hatte eine weitere Operation. Als es mir wieder besser ging, konnte ich es nicht lassen und fing wieder mit der Arbeit an. Bis 2004. Dann musste ich ganz aufhören. Dies jedoch gezwungenermassen aus gesundheitlichen Gründen und nicht, weil es mir gestunken hätte. Ich würde sofort wieder Unterricht geben.» 

Trotz all der Schmerzen denkt sie nie daran, einfach alles aufzugeben. «Die Freude der Kinder und Jugendlichen gab mir immer wieder Kraft. Die Arbeit mit beeinträchtigten Menschen liess mich weiter in den Glauben eintauchen. Vorher war mein Glauben einfach alltäglich – ich ging in die Kirche und betete. Als ich krank wurde und viel liegen musste, konnte ich nicht mehr in die Kirche gehen. Vieles konnte ich nicht mehr.» Ihr Glaube wird insofern anders, als sie nun zu Hause betet und die Bibel studiert. «Der Glaube ist ein Stück von mir. Er hilft mir. Ich habe durch ihn immer gespürt, dass ich nicht allein bin.» Bis heute ist der Glaube daher ihr ständiger Begleiter.  

Glücklich in den Lebensabend
Heute geniesst die 77-Jährige ihren Ruhestand im Altersheim. Ihr kleines Zimmer ist über und über voll mit Erinnerungen an ihr Leben und an ihre Familie. Die Regale sind rappelvoll mit Fotos von ihren Patenkindern, Geschwistern und Eltern. Auch wenn die Bilder wie auch Margaretha Scherrer mittlerweile älter geworden sind – die Erinnerungen sind kraftvoll und lebhaft. Auch wenn die Kinder der Familie erwachsen wurden – bei Margaretha Scherrer werden sie immer die Kinder sein, die mit ihrer Mutter in die Kamera lächeln oder in den Ferien vor einer Londoner Telefonzelle stehen. 

An schönen Sommertagen sitzt sie bei einem Kaffee und einem Dessert draussen auf der Terrasse und schaut gedankenverloren über den Park des Alterswohnsitzes in St. Gallen. Ihr Blick schweift zur nahen Kirche und anschliessend nach oben zu den grünen Hügeln, hinter denen sich das Naherholungsgebiet «Drei Weieren» befindet. Oder sie nimmt ihr Smartphone und den Rollator und geht im Park spazieren. Sie schlendert gemütlich über den ebenen Kiesweg, macht Rast am grossen weissen Springbrunnen in der Mitte des Parks und fotografiert die Blumen am Wegesrand, die Insekten auf den Blättern und die Vögel in der Luft. Der Park ist wahrlich eine Ruheoase, fernab der lauten Hauptstrasse vor dem Haus. Die Fotos aus dem Park werden anschliessend an die Verwandten verschickt oder am Computer zu einer Collage verarbeitet, ausgedruckt und aufgehängt. Kreativ war sie schon immer. Und sie bastelt gerne – nicht nur damals mit den Nachbarskindern, als sie selbst noch ein Kind war.  

«Solche Sachen bereichern meinen Tag»
Margaretha Scherrer ist aber auch sehr gesellig und empfängt gerne Besuch im Café des Altersheims namens «Wannerstübli». Hier spricht sie ausführlich über Gott und die Welt und erfreut sich an ihrem Kaffee. Wenn möglich, besucht sie ausserdem sehr gerne ihre jüngere Schwester Maria im Behindertenwohnheim. «Am 17. Januar war ich bei Maria. Sie hat sich sehr über den Besuch gefreut. Sie bekam noch ein verspätetes Weihnachtsgeschenk – einen Pullover. Sie hatte riesige Freude und sprang von einem Fuss auf den anderen. Solche Erlebnisse bereichern meine Tage immer wieder.» 

Margaretha Scherrer ist nun in einem Alter, in dem man sich mit dem eigenen Ableben auseinandersetzt. Doch sie sieht den Tatsachen ins Auge und ist glücklich. «Ich weiss, dass ich in einem Alter bin, in dem es jeden Tag zu Ende gehen kann. Aber so, wie es jetzt ist, bin ich sehr zufrieden.»  

Sollte es tatsächlich einen Gott geben, wird er sie mit Freuden empfangen – denn sie hat dafür gesorgt, dass seine Kunde auch dort verbreitet wird, wo es die Geistlichen nicht für nötig hielten.